Liften – der Dreh- und Angelpunkt der Koppelgebrauchsarbeit?

Der Hund stoppt nicht, wenn er soll? Er läuft immer viel zu eng und zu schnell? Er bringt die Schafe in Lichtgeschwindigkeit? Oder er läuft erst gar nicht gerne zum Holen los? In den Stall oder Pferch kann man ihn gar nicht schicken, weil es sonst blutig wird? Oder er geht gar nicht erst rein? All diese Probleme könnten eine Ursache haben … aber fangen wir von vorne an:

Ich bilde derzeit meinen siebten eigenen Hund an meinen Schafen aus. Die vielen Hunde, die ich für und zusammen mit ihren Besitzern bei den ersten Schritten am Vieh begleitet habe, sind ungezählt. Aber da sind über die Jahre wohl einige zusammengekommen. Da ich nicht nur mit „eye dogs“ wie Border Collies arbeite, habe ich auch einiges an Erfahrung mit „loose eye dogs“ in der Koppelgebrauchsarbeit gesammelt. Dabei ist mir über die Jahre immer bewusster geworden, wie wichtig das Liften, also die erste Kontaktaufnahme und das Anbewegen der Schafe bzw. des Viehs ist. Da ich selbst in erster Linie mit Schafen arbeite, beziehe ich mich im weiteren Text auf diese. Aber der Prozess ist in etwas abgewandelter Form auch für Rinder, Geflügel oder anderes Vieh gültig.

Nun könnte man ja denken: Ist doch ganz einfach – der Hund kommt, das Vieh geht los. Manchmal ist es das auch. Aber oft eben auch nicht. Dieser Augenblick ist häufig bestimmend darüber, wie gut oder schlecht die weitere Arbeit des Hundes am Vieh wird. Betrachten wir einmal, wo wir uns beim Liften von der Verhaltenssequenz her eigentlich befinden: Hund und Schafe haben ein Beute-Jäger-Verhältnis. Die Schafe haben Angst vor dem Hund, daher weichen sie, wenn der Hund sich in jagdlicher Manier nähert. Der Hund befindet sich in der jagdlichen Verhaltenssequenz zwischen Hetzjagd und einem Jagdpartner die Beute zutreiben.


Die Angst der Schafe reduziert sich mit der Zeit auf ein „gesundes“ Maß. Sie lernen Respekt vor dem Hund zu haben und nicht (mehr) panisch zu werden. Das ist wichtig und gut so, sonst wären die Schafe von der Arbeit des Hundes sehr gestresst. Sie lernen, dass sie durch ihr eigenes Verhalten dafür sorgen können dem Druck durch den Hund zu entgehen und mehr Raum zu bekommen. Manche Schaftypen wählen diesen Weg recht schnell. Ihnen reicht es schon, dass der Hund auf der Bildfläche erscheint, um ein ausweichendes Verhalten zu zeigen. Es gibt aber auch das andere Extrem: Schafe, die nicht so einfach mit Weichen auf den Hund reagieren und wenig beeindruckt von seinem Auftreten sind. Es kommt zudem Lernerfahrung hinzu, die die Schafe in die eine oder andere Richtung lenken kann und ihr zukünftiges Verhalten im Bezug auf den Hund beeinflusst. Bei einem jungen Hund wählt man in der Ausbildung geschickterweise Schafe, die ein Mittelmaß bieten. Sie sollten nicht kopflos davonstürmen, aber auch nicht wie festgenagelt stehen bleiben, wenn der Hund sich nähert.

Beginnt ein Hund mit der Arbeit am Vieh, muss er als erstes lernen wie er Schafe in Bewegung setzen kann. Hierbei sieht man im Laufe der Zeit alle möglichen Varianten: Hunde, die sich gar nicht wirklich trauen bis hin zu denjenigen, die nach dem Motto „auf sie mit Gebrüll“ agieren. Nun versucht man als Mensch mit Hilfe des genetischen Baukastens des jeweiligen Hundes das Liften so zu formen, dass der Hund das Vieh selbstbewusst, ruhig, bestimmt und in einem gemäßigten Tempo in Bewegung bringt. Hierbei haben verschiedene Hundtypen verschiedene Werkzeuge in ihrem genetischen Werkzeugkasten. Während ein Border Collie abgeduckt mit starrem Blick arbeitet, laufen manche Hunde aufrecht und weben dabei. Manchmal ist sogar zusätzliches Bellen ein Werkzeug. Was davon ist denn jetzt am besten? Ich sage ganz klar: Das, was funktioniert!

Und das sagt die Reaktion der Schafe. Zeigen sie das erwünschte Verhalten, dann hat der Hund es richtig gemacht. So einfach kann es sein. Doch so einfach ist es vor allem für den Hund in der Regel nicht, denn das Liften braucht nicht bloß ein einziges Werkzeug. Es sind in der Regel mehrere, die der Hund im passenden Maß gleichzeitig oder direkt nacheinander einsetzen muss. Viele junge Hunde zeigen sie zunächst bunt gewürfelt, nutzen also die Werkzeuge aus ihrem Werkzeugkasten, ohne zu wissen, wie man sie bestmöglich einsetzen kann. Und dabei übertreiben sie beim Einsatz an manchen Stellen auch mal oder sind zu verhalten. Sie probieren eben herum und lernen anhand der Reaktion der Schafe, ob dieses Werkzeug im Augenblick überhaupt die richtige Wahl war.
Im Grunde lehrt sich das Liften also von selbst? Manchmal ist das tatsächlich so. Aber in den allermeisten Fällen bedarf es der Anleitung durch den Menschen die Werkzeuge in einem gewissen Maß einzusetzen und manche Werkzeuge überhaupt erst mal aus dem Kasten zu holen um sie ausprobieren zu können. Ich persönlich liebe es ja zu sehen, wie Hunde sich an diesem Punkt entwickeln und verwende in der Ausbildung viel Zeit dafür. Ich möchte, dass meine Hunde sich an diesem Punkt wohlfühlen, das Vertrauen haben, dass sie das Liften in jedem Gelände, mit jedem Schaftyp, in der Weite und in der Enge können ohne dabei gestresst zu sein.

Leider habe ich in all den Jahren viele Hunde gesehen, denen das nicht gut beigebracht wurde. Viele Hunde fürchten sich sogar vor diesem Punkt. Die Bewältigungsstrategien, die Hunde sich dann aneignen um da irgendwie durchzukommen, sind ganz unterschiedlich. Manche gehen nur ganz kurz zu diesem Punkt und schnell wieder weg, sobald sich eine Gelegenheit bietet, manche meiden ihn komplett, andere rennen mit Karacho dahin um das Liften schnell hinter sich zu bringen. Die Folgen sind weitreichend, denn die Furcht vor diesem Punkt hat auch Einfluss auf andere Bereiche. So laufen Hunde, die den Punkt gerne meiden, oft übergroße Flanken, bei denen sie den Kontakt und die Kontrolle über die Schafe verlieren. Sie stoppen weit vor dem Druckpunkt oder überlaufen ihn. Hunde, die die Schafe lieber mit Tempo schnell in Bewegung bringen wollen, laufen dagegen die Flanken oft so eng, dass die Schafe deshalb schon loslaufen und ein Liften gar nicht mehr notwendig ist, weil die Schafe losbrettern. In der Folge zeigen sich dann Probleme beim Outrun – also dem Herauslaufen zum Schafe holen, beim Fetch – also dem Bringen der Schafe, beim Arbeiten am Pferch, dem Treiben, im Grunde hat es auf die komplette Arbeit Auswirkungen.

Wie sollte so ein Liften denn nun optimalerweise aussehen? Wie schon erwähnt, bestimmt am Ende das Verhalten der Schafe, ob es „richtig“ ist. Dabei hängt es natürlich stark davon ab, in welcher Situation der Hund Schafe anbewegen soll. Steht eine kleine Gruppe auf offener Fläche, ist es etwas anderes, als wenn eine große Herde bewegt werden muss. In einem Pferch fehlt dem Hund der Raum um die eigentlich notwendige Distanz aufzubauen. Sind Schafe wehrhaft, muss der Hund sich auch hier durchsetzen können.

Ein Beispielvideo: Ich habe mit meiner selbst gezogenen Hündin Fleek einen Hund, der im Verhältnis zu anderen Border Collies ein recht loses Auge, gegenüber einem Hund wie einem Groenendael aber dann doch recht viel Auge hat. In diesem Video sieht man ein schönes Liften einer kleinen Schafgruppe auf offener Fläche. Sie läuft geduckt mit fixierendem Blick in den Druckbereich der Schafe. Wo der Druckbereich beginnt, erkennt man daran, dass sie das Tempo etwas reduziert um langsamer bis zu dem Punkt zu laufen, an dem die Schafe sich drehen und losgehen. Genau in diesem Augenblick kommt sie aus dem Schleichen hoch, nimmt den Kopf kurz seitlich und beobachtet was passiert. Damit nimmt sie den Druck von den Schafen, der tatsächlich in diesem Augenblick nicht mehr notwendig war, weil sie ja losgehen. Sie webt leicht um den Druck zusätzlich zu reduzieren. Sie signalisiert damit aber auch, dass sie bereit ist die Schafe zusammenzuhalten, falls eines ausbrechen möchte. Das sehen im Übrigen auch die Schafe! Dann schließt sie sich den Schafen leicht seitlich passend zum Zugpunkt (rechts befindet sich die Weidefläche der Schafe) auf eine Distanz und in einem Tempo an, dass die Schafe „gemütlich“ zu mir laufen.

Hier ein zweites Beispielvideo: Fleek steht einem wehrhaften Mutterschaf gegenüber, dem sie noch nicht gewachsen ist. Ich habe hier bewusst den Ausschnitt mit dem Angriff drin gelassen, damit man sieht, dass ihr da noch der Mut fehlt souverän stehen zu bleiben und Stärke auszustrahlen. Hier kommt zusätzlich die Enge des Pferchs hinzu. Fleek kann nicht darauf zurückgreifen die auf einer offenen Fläche angebrachte Technik zu nutzen und komplett aus dem Druckbereich der Schafe zu gehen. Sie zeigt nach dem Angriff ein recht typisches Verhalten eines jungen Hundes: Sie weicht aus und läuft hinter die Schafe der Gruppe, die leichtgängiger sind und nicht angreifen. Ich möchte aber natürlich üben, dass sie sich durchzusetzen weiß und wiederhole daher die Situation. Fleek zeigt bei der Wiederholung eine angedeutete Attacke. Das Schaf beantwortet das nach kurzem Überlegen mit Herumdrehen und Weichen. Fleek hat in diesem Augenblick schon den Druck weggenommen, was absolut richtig ist, um das Verhalten des Schafs zu bestätigen. Sie zeigt aber auch die Tendenz nach rechts vom Druckpunkt wegweichen zu wollen. Es ist eben anstrengend. Als die Schafe dann an der Pferchwand stehen, muss sie sich zwischen den Schafen und der Wand durchquetschen. Das ist wieder eine andere Technik!

Was ich leider oft sehe, sind Hunde, denen beigebracht wurde über reinen Gehorsam an diesem Druckpunkt zu bleiben. Ja, das kann funktionieren, wenn der Hund irgendwann feststellt, dass es dort „gar nicht so schlimm“ ist. Doch die Quote derer, die diesen Punkt nicht korrekt arbeiten können und dort sehr gestresst sind, ist sehr hoch.

Ich sehe zum Beispiel oft Border Collies, die dort tatsächlich stoppen und in stylisher Jagdmanier stehen oder liegen, aber eigentlich gar nicht wissen warum sie das tun und warum die Schafe auf sie reagieren. Eye-dogs „hängen“ sich bei Stress prinzipiell gerne mit dem Auge an einem Reiz auf. Das heißt, sie glotzen etwas an, weil sie das berauscht. Allerdings, heißt das noch nicht, dass sie wissen, was sie dort wirklich tun. Es ist eher eine Übersprungshandlung.
Das gegenteilige Extrem: Es wird dem Hund gar nicht beigebracht auf dem Druckpunkt zu bleiben, sondern er wird dort immer nur mal vorbeigeschickt damit die Schafe wieder angekickt werden. Diese Technik sehe ich häufiger bei Hunden mit losem Auge. Sie sind über Gehorsam gar nicht am Druckpunkt zu stoppen, wenn sie sich dort unwohl fühlen.

Ich habe früher trainiert den Hund am Druckpunkt über ein Gehorsamsstopp festzunageln. Ich würde das Risiko dieser Trainingstechnik heute nicht mehr eingehen. In meinen Augen überwiegen die Nachteile. Und so etwas zu reparieren, sodass der Stress im Trainingsaufbau vergessen wird, funktioniert meiner Erfahrung nach nur bedingt, meist gar nicht. Bestenfalls ist nur das Kommando verbrannt und man kann es ersetzen, meist ist es aber eine Kombination aus vielen Faktoren, sodass der Hund den Kontext wiedererkennt und allein davon in Stress gerät.

Bei meiner ersten Hündin führte das Festnageln am Druckpunkt über Kommando dazu, dass sie sich gerne an einem Schaf festglotzte und den Rest ignorierte. Sie war ein Hund mit „viel Auge“, also einer hohen Tendenz bei Stress etwas anzustarren.
Meine zweite Hündin war genau andersherum gestrickt: Sie wollte Stress in Aktion umsetzen. So entludt sie den Stress schließlich in erster Linie über beißen oder, wenn ich immer massiver auf das Stoppen bestand, in allerletzter Not durch weglaufen und sich verstecken.

Deshalb dürfen sich meine Hunde das heute mit meiner Unterstützung und Anleitung in ihrem Tempo erarbeiten. Meiner Erfahrung nach resultieren daraus Hunde, die sich wohlfühlen, auf Dauer Zusammenhänge gut erkennen, Aufgaben selbständig lösen können und ohne „Kampf“ gehorsam sind.

Doch das ist noch nicht alles, denn mit jedem Hund-Schaf-Kontakt schult und trainiert man auch die Schafe. Ich erinnere mich an einen Hund, dessen Besitzer ich in der Ausbildung anleitete. Er erzählte mir, dass der Hund die eigenen Schafe daheim nicht bewegen konnte. Bei meinen Trainingsschafen der gleichen Rasse war er immer mit etwas zu viel Dampf unterwegs und musste heruntergebremst werden. Umso erstaunter war ich über das Problem.

Nach vielen Gesprächen, in denen ich nicht herausfinden konnte, was Zuhause das Problem war, besuchte ich die beiden schließlich und arbeitete mit meiner erfahrenen Hündin die Schafe, die sich tatsächlich zunächst quer stellten. Doch die Schafe ließen sich nach wenigen Minuten von meiner Hündin ohne weitere Probleme über die Fläche balancieren. Dann zeigte mir der Besitzer seinen Hund und die Schafe gingen keinen Meter mehr. Der Hund machte ordentlich Druck, biss sogar, die Schafe wurden immer sturer. Was war der Fehler? Er nahm niemals den Druck weg, wenn die Schafe den Ansatz vom Losgehen zeigten! Der Besitzer hatte das gar nicht wahrgenommen. Die Schafe hatten gelernt, dass ihr Verhalten zu keiner Erleichterung führte, sondern der Hund eher massiver wurde. Also wurden sie auch massiver, wehrten sich und stumpften schließlich komplett ab. Es gab für sie keine Lösung dem zu entkommen.

Daher ist es wichtig dem Hund einen sorgfältigen Umgang mit den Schafen beizubringen. Ihm beizubringen, dass er korrektes Verhalten der Schafe belohnen sollte, indem er Druck nimmt und unerwünschtes Verhalten straft, indem er den Druck erhöht. Dabei muss die Dosis und die Technik auf die Herdengröße und den Schaftyp angepasst sein. Der Hund sollte also beim korrekten Liften ebenfalls lernen sich umzustellen, wenn er mit verschiedenen Schaftypen und Herdengrößen zu tun hat.

Und nun schließt sich der Kreis, denn nicht zuletzt resultieren aus dem Stress und der Angst vorm Liften in der Arbeit noch viele weitere Probleme: Viele Hunde laufen die Flanken zu eng oder viel zu weit um dem Liften zu entgehen. Sie stoppen nicht an dem Punkt, an dem sie die Tiere eigentlich anbewegen sollen, weil sie den Punkt fürchten. Sie bringen das Vieh in hohem Tempo um zu verhindern, dass es stehen bleibt und der Hund es wieder liften müsste. Hunde, die nicht gut liften, können für das Wegtreiben nicht gut eingesetzt werden. Sie kippen schneller ins unnötige Beißen, sind generell schlechter steuerbar und wirken unkooperativ. Die Liste kann sicher noch um einige Punkte fortgesetzt werden. Es lohnt sich also wirklich sich mit diesem wichtigen Element in der Koppelgebrauchsarbeit auseinanderzusetzen, sich Zeit zu nehmen und gute Gelegenheiten zu schaffen das mit dem Hund solide zu erarbeiten.